Kratzekind

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Geschwisterkind - Das Leben im Schatten eines kleinen Patienten

Ich bin auch noch da - über Geschwisterkinder von Atopikern

Bevor Raupe geboren wurde, drehte sich natürlich ein ziemlich großer Teil unseres Lebes um den Großen. Logisch. Allerdings fühlt es sich (nicht zuletzt aufgrund der "Atopiker-VIP-Stellung" des Großen?!) auch heute noch oft so an als spiele das Kratzekind die erste Geige in unserer Familie - aber das wusste ich vor der Geburt des Zweiten ja noch nicht. Ich erinnere mich noch, dass ich mir, wie jede Mama von zwei oder mehr Kindern, in der 2. Schwangerschaft massiv Gedanken über die Geschwisterkonstellation machte; wie wird der Große diese Verdrängung vom Throne wohl verkraften? Kann man Liebe verdoppeln, verdreifachen und wenn ja - wie? Oder muss man sie wohl eher halbieren, vierteln usw. je mehr Kinder dazukommen? Kann ich beiden Kindern gleichermaßen gerecht werden? 

Als Raupe dann 2 1/2 Jahre nach dem großen Bruder das Licht der Welt erblickte, lösten sich all diese Gedanken in Luft auf. Zum einen hatte ich schlichtweg keine Zeit mehr groß darüber nachzudenken. Zum anderen machte es uns Raupe als Bilderbuch-Zweitgeborener so unglaublich einfach jedwede Bedenken über Bord zu werfen. Von Geburt an war er so easy und relaxt, dass wir unser Glück kaum fassen konnten. Entspannt, anpassungsstark, charmant, ausgeglichen, flexibel, fröhlich aber nicht aufbrausend, interessiert aber nicht fordernd, liebevoll aber nicht klammernd; schnell lief er wortwörtlich einfach nur noch so mit.

Jetzt ist Raupe fast drei Jahre alt, ein steter Bewunderer des Großen, verfolgt mit seinen Augen und Füsschen den Bruder auf Schritt und Tritt in voller Akzeptanz seiner Adjutanten-Rolle. Aber: er wächst nicht nur im - oft auch angenehmen - Schatten des großen Bruders auf sondern eben auch im eher unangenehmen Schatten eines chronisch kranken Kindes. Denn tagaus tagein spielt der Zustand der Haut und Bindehaut unseres Kratzekindes eine signifikante Rolle in unserem sonst 0815-Family-Alltag. Der Tag beginnt und endet nun einmal mit dem Cremen und den Tabletten. Pasten, Salben und Cremetöpfe häufen sich zwischen Feuchttüchern und Spielekisten, in der Kita werden zusätzliche Pflegeprodukte hinterlegt, eigene Seifen werden in Bädern verteilt (BTW: hätte nie gedacht, dass ich mich mal in meinem Leben mit dem Unterschied zwischen Waschstück und Seife auseinandersetzen müsste?!), spezielle Sonnencremes angehäuft, Krankheitstage eingeräumt, Arztbesuche terminiert, das Kratzekind besitzt Inhaliergeräte und "Froschmasken" in diversen Ausführungen - alles eigentlich 'uncooles' Zeug aber aus Raupes Sicht vermutlich unerreichbare Hipster-It-Pieces. "Mama, ich hab auch ganz 'besondere' Haut" - sagte er einmal zu mir. "Ja klar, Raupe, Deine Haut ist wunderschön!", erwiderte ich. "Aber meine cremst Du gar nicht so oft ein. Ich bin auch krank, ich will auch Creme!" Natürlich besorgte ich schon frühzeitig eine eigene Lotion extra für den Kleinen aber er spürte einfach immer, dass das nicht dasselbe war - Kinder haben sensitive Superkräfte; sie erfassen jede noch so unterschwellige Schwingung, jede unausgesprochene Sorge, erfühlen jedwede Erleichterung, wenn Verbesserung beim kranken Kind eintritt oder orten die Enttäuschung und das Mitgefühl der Eltern, wenn der Krankheitsverlauf schlechter wird. Sie fühlen sich ein und fühlen mit, sowohl mit den Eltern als auch mit dem Geschwisterkind. In unserem Falle hieß das: Creme und Creme - Es ist einfach nicht dasselbe.

Meist steht Raupe geduldig, manchmal irritiert daneben, wenn ich das Kratzekind behandle oder - an schlechten Tagen - mit ihm in Streit gerate über die Medikation, ich die Nerven verliere, laut werde, rumpoltere, dann - an ganz üblen Tagen - vielleicht vor den Kindern in Tränen ausbreche aus Wut, aus Verzweiflung, dass der Große uneinsichtig jedwede Behandlung ablehnt, ich ihn fast schon "zu seinem Glück" zwingen muss, ihn eincreme gegen seinen Willen, um seiner Haut die verschriebene und notwendige Pflege zu geben. Aber selbst das ist alles Aufmerksamkeit, die eben nur ein Geschwisterteil abbekommt. Und zwar nicht das gesunde Kind. Leider. Einmal 'erwischte' ich Raupe dabei wie er die 'echte' Creme des Großen heimlich und nicht zu knapp unbeholfen im eigenen Haar und Gesicht auftrug. Fast ein bisschen stolz sah er dabei aus. Ahnte er insgeheim, dass ich ihm dabei zusah? Natürlich konnte ich ihm nicht böse sein, ärgerte mich nur über meine Nachsichtigkeit, dass ich vergesseh hatte das Produkt wegzuschließen. Ich nahm ihn ganz fest in die Arme und sagte: "Hat Dich das Kratzemonster jetzt auch besucht und angefangen Dich zu jucken?" "Ja, Mama", antwortete er mit ernster Miene und sah zu Boden. "Weißt Du, Raupe, ich glaube Dein Kratzemonster ist ein ganz besonders hartnäckiges Exemplar, das kriegen wir noch nicht einmal durch eincremen in den Griff sondern das verschwindet nur durch ein Spezial-Rezept: tägliches Durchkitzeln, stündliches Abknutschen und abendliches Bauchkraulen vor dem Einschlafen." "Ja, genau! Das stimmt!", antwortete er lachend während ich anfing ihn durchzukitzeln. Irgendwann waren unser beider Köpfe voller Creme als hätten wir uns mit Schlagsahne eingeschmiert.

Chronische Erkrankungen kann man nicht ignorieren oder so tun als gebe es sie gar nicht. Alles versucht, hat für uns nicht funktioniert. Aber wir bemühen uns jeden Tag aufs Neue uns von Kratzemonster und Hustefuchs nicht die Butter vom Brot nehmen zu lassen. Die atopischen Krankheiten müssen sich unserem Leben irgendwie anpassen sonst wird der Bock zum Gärtner gemacht. Dabei versuchen wir Raupe so viel Raum wie möglich zu geben: im Gespräch, beim individuellen Kuscheln, Spielen und Vorlesen und durch exklusive Mama- und Papa-Zeit. Und natürlich bleibt er als Zweitgeborener immer ein klitzekleines Stückchen mehr "unser Baby", eine Tatsache, die Raupe auch gut einzusetzen weiß, wenn es gewisse Vorzüge vermuten lässt! Manchmal muss ich mich zwingen ihn wahrzunehmen in all seiner Bedürftigkeit fernab der Tatsache, dass er ein kerngesundes Kind ist. Dann erschrecke ich mich. Aber mittlerweile kommt das nicht mehr häufig vor und es gelingt mir ganz gut ihm genügend Aufmerksamkeit fernab der medizinischen Rituale des Kratzekindes zu geben. Wenn Raupe nur erahnen könnte, welch wichtiger Stabilisator seine Frohnatur, sein glucksendes Lachen, seine Begeisterungsfähigkeit und Gelassenheit für unsere Familie ist; wenn er wüsste, welch wichtiger Partner er auch für seinen 'chefigen' großen Bruder ist. Wie dankbar ich ihm bin und wie sehr wir ihn lieben. Ich hoffe, auch das kann er erspüren. Klar, kann er das. Raupe hat doch Superkräfte.

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