Kratzekind

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Ich fühl mich schuldig - über Mitleid & Selbstmitleid

Es gibt so Tage, an denen kann ich den Gedanken nicht loswerden: Ich bin schuld. Vielleicht ist das auch eher ein Mama- Ding, denn dem Kratzekind-Papa geht es komischerweise selten so. Er ist viel besser darin die Atopie anzunehmen, sie als gegeben zu akzeptieren, als eine genetisch bedingte Erkrankung für die wir nichts können. Nüscht. Nada. Punkt.

An guten Tagen fällt mir das auch nicht schwer. Dann bin ich analytisch und rational genug, um die zahlreichen Artikel, wissenschaftlichen Erkenntnisse und Forschungsergebnisse zu dem Thema zu durchdringen und dann die vermeintliche Schuld "abzuschütteln". Klar, Asthma bronchiale & Neurodermitis sind im Normalverlauf keine lebensbedrohlichen Erkrankungen, es gibt 1000x schlimmere Schicksale; und doch gehen sie mir häufig so derbe auf den Zeiger - durch ihre Allgegenwärtigkeit. Durch die Schmerzen, die sie meinem Kind antun. Und ihr Bedrohungspotential: Superinfektion, Herpes & Hirnhautentzündungen, psychische Faktoren, Pneunomie und damit verbundene starke Lungenschädigungen. Alles real. Das meiste schon dagewesen. We know the game. Wir haben gelernt damit umzugehen. Das weiß ich. Nie wurde mir klarer vor Augen geführt als durch die wiederkehrenden Haut- und Lungen-Schübe warum gerade die Welle in vielen Kulturen das Symbol des Lebens ist.

Aber an schlechten Tagen ist es vorbei mit meiner Rationalität. Dann mache ich mir Vorwürfe. Zum Beispiel wenn ich lese, wie viel Einfluss der Schwangerschaftsverlauf bereits auf die Physis und Psyche eines Kindes hat. Welche Auswirkungen Stress schon auf das Ungeborene hat. In meiner Schwangerschaft habe ich so viel gearbeitet, musste berufsbedingt viel fliegen, hatte viel Stress - vermeidbar? Hätte ich mich nicht etwas mehr zurücknehmen können? Rührt vielleicht doch daher die Anfälligkeit meines Kratzekindes? Damals hatte ich noch die Einstellung "ich bin ja nicht krank, ich bin ja nur schwanger", wollte es mir und der Welt beweisen wie "easy" man als Frau so eine Schwangerschaft (beruflich) wegstecken kann, hab mich über die Latte Macchiato Muttis lustig gemacht und den Bugaboo-Stau vor den hippen Cafes kopfschüttelnd belächelt. Aber Nachtschichten trotz Frühwehen, Fliegen statt Beine-Hoch, Vortrag statt Nestbau, Perlenohrringe und Nylonstrümpfe statt Bauchband und Kompressionsstrümpfe - hat das etwas mit meinem Kratzekind gemacht? Hat das vielleicht auch etwas mit seiner speziellen Lungen- und Haut-Disposition zu tun? Habe ich nach der Geburt vielleicht doch zu früh wieder angefangen zu arbeiten? Hätte ich noch länger zu Hause bleiben sollen, habe ich dem Kind zu früh zu viel Fremdbetreuung zugemutet? War ich am Ende doch so eine Karrieremama, die so tut als kennt sie ihre Kinder aber in Wirklichkeit deren Bedürfnisse doch nicht allumfänglich wahrnimmt? Wäre die Dermatitis weniger schlimm, wenn die Antwort auf all diese Fragen "Ja" lauten würde? Dann mache ich mir Vorwürfe. Und manchmal versinke ich in diesem See und lasse mich immer tiefer und tiefer hineinfallen und runterziehen. 'Ich bin Schuld' höre ich mich dann schweigend rufen in meinem Kopf. Hätte ich doch nur anders Prioritäten gesetzt. Früher. Bewusster.

Aber: Selbstmitleid kann ich mir nicht leisten - keine Zeit!

Schluss! Ende! Aufhören! Schon wieder zerfrisst mich dieses Selbstmitleid. Gähn. Langweilig. Get over it! Dabei brauche ich all die Kraft und Ausgeglichenheit und Gelassenheit noch für meine Kinder, für meine Familie, für den täglichen Kratzemonster-Kampf - und für mich! Ich komme zu der Erkenntnis: Sorry, aber Selbstmitleid kann ich mir schlichtweg nicht leisten. Keine Zeit! Und kein Bedarf. Dieses Gejaule von mir ist in sich auch schon wieder so destruktiv und egozentrisch, dass ich nur den Kopf schütteln kann über mich selbst. Ganz selten muss man es vielleicht mal rauslassen, denn ob ich will oder nicht, es gehört eben auch zu mir. Nur bitte häufiger in den Schrank sperren mit Vorhängeschloss und mit ganz strikten Ausgangszeiten. Ich nehme mir vor mich mehr auf das Jetzt zu konzentrieren, denn als auf die Vergangenheit (oh je, gehe ich jetzt unter die Esoterikerinnen?!) - die Vergangenheit kann ich sowieso nicht mehr ändern, ich bin nicht Marty McFly. Ganz zu schweigen von jedweder wissenschaftlichen Basis für meine im Selbstmitleid entwickelte "Schuld-Theorie".

Hab' keine Lust mehr mich selbst zu bemitleiden - wieso überhaupt mich? Ich bin doch gar nicht krank! Sondern mein Kratzekind. Und wenn das mal keine Aufmerksamkeit braucht, hab ich in Gottes Namen noch diesen anderen Hasen (Raupe!), der all meine Empathie, Freude und gegebenenfalls auch mein Mitleid braucht. Und mein Selbst ist auch noch wichtig! Das Selbstmitleid habe ich also zwischenzeitlich tief in meinem Schrank vergraben - die Perlenohrringe übrigens auch.