Kratzekind

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"Die Mama soll das machen!"

Auszeiten nehmen. In sich hinein hören. Oder einfach mal gar nichts hören, sehen, sagen. Schluss, Ende, Ruhe jetzt!

Jeder kennt dieses Bedürfnis nach einer Stoptastenfunktion im Leben - aber es ist so schwer diesem Bedürfnis nachzugehen, wenn Dich dabei auch noch zwei große Kulleraugen (im schlimmsten Fall schon von den ersten Tränen ganz wässrig) anschauen; ein krankes Kind, dessen Bedürfnisse diametral zu den Deinen stehen. Heute ging mir das wieder einmal so. Unser Kratzekind wollte unbedingt, dass "die Mama" ihn am Abend eincremt; er war müde und ausgelaugt vom täglichen Kita-Wahnsinn und Fußballspielen und ist in dem Zustand besonders leicht reizbar - wie jedes normale Kind. Glücklicherweise müssen normale Kinder in eben diesem Zustand nicht z.B. noch täglich ihre Tabletten schlucken, Globuli einnehmen, Spray inhalieren, Tees oder Kräutersud wahlweise schlürfen oder auftragen lassen, ihre pasten-artige, streichfeste, nimmer-einziehen-wollende Basiscreme oder anderweitige Pflege vom kleinen Zeh bis zum Scheitel dick auftragen (unser Großer verbraucht aufgrund seiner trockenen Haut ca 1-1,5kg Basiscreme pro Monat) und die Wundstellen noch separat versorgen, Fieber messen, bescheuerte Schlafanzüge ohne Starwars- oder Minion-Emblem anziehen usw. Alles kein Weltuntergang aber aus seiner Sicht im besten Fall nervig, im schlimmsten Fall schmerzhaft. Leider ist aber heute die Mama auch verdammt müde und ausgelagt vom ganz normalen Lebenswahnsinn und She's got it all-Spielen auf der Arbeit und zu Haus. Heute kann ich mir den "Pflege-Terror" auf gar keinen Fall geben. Never. Nope. Ich bin raus aber sowas von, ich will ein Kölsch, 'ne Sonnenbrille und mich draussen in die Abendsonne setzen.

Aber: Wie egoistisch bin ich denn bitte, wenn ich jetzt meinen Stiefel durchziehe?!

Wirklich?

Vielleicht sollte man das Pferd zumindest als Gedankenexperiment einmal von hinten aufzäumen: Im Grunde ist der vermeintliche Egoismus am Ende wohlmöglich gar ungemein solidarisch - Langfristig gesehen. Denn: er beugt dem Ausbrennen des stärker eingeforderten Elternteils (ob Mama oder Papa) vor und hilft die Kräfte einzuteilen, gerade wenn der nächste Schub nicht weit ist. Daher bemühen wir uns zu Haus in der Regel konsequent zu bleiben und uns an unseren bewährten Rhythmus zu halten: Pflege im täglichen Schicht-Wechsel. Praktisch heißt das: montags hab ich 'Pflege-Dienst', den nächsten Tag der Papa und so weiter, es sei denn, es gibt dringliche berufliche oder private Verplichtungen. Gleiches gilt bei unseren Kindern übrigens auch in Sachen Vorlesen-und-zu-Bett-Bringen-Craziness. Wenn also just der heute aus unerfindlichen Gründen mal nicht angesagte Elternteil an besagtem Abend 'Dienst schiebt', und folglich kein Auge trocken bleibt, die Tränen kullern, die Wut das Kind packt und auch der Bin-ich-eine-Rabenmutter-Zweifel an mir nagt ("ist das Kind nicht eh schon genug gebeutelt, sollte ich nicht deeskalierend einwirken, will ich dem Papa jetzt das Frust- oder Trotz-Geschrei zumuten und die "Arschkarte" zuschieben?") und die flehende Forderung im Raum steht: "Die Mama soll das machen!" - was tun?

In der Regel sage ich an meinen 'dienstfreien' Abenden jetzt eben: "." Und ergänzend: "Ich hab Dich super lieb aber auch die Mama muss sich mal ausruhen. Heut ist der Papa dran, dann hab ich morgen wieder ganz viel Kraft für Euch." Fällt mir auch nicht immer leicht. Und natürlich gibt es Ausnahmen! Aber mittlerweile sage ich das "" auch fast ohne jedwedes schlechte Gewissen denn: was ist die Alternative? Jedes mal die situativen Interessen des Kindes als Maxime meines Handelns zu ernennen? Hierbei ist die Gefahr groß, dass das "schwächere" Elternteil immer und immer wieder weich wird und dann doch eincremt und dann doch zu Bett bringt und dann doch auch am nächsten Tag nachgibt und dann doch übermüdet, deprimiert, frustriert wie eine Co-Abhängige in der Endlosschleife festhängt und dann doch dem anderen Elternteil Vorwürfe macht, er würde ja sowieso nichts machen (weil man ihn nichts machen lässt..?) und und und...bis die eigenen Bedürfnisse irgendwann gar nicht mehr wahrgenommen werden, im schlimmsten Fall auch die Partnerschaft einen Knacks hat oder man die unterdrückten Aggressionen andere Familienmitglieder grundlos spüren lässt. Dann ist die Gefahr des Ausbrennens nicht weit. Depression? Burnout? Danke, kein Bedarf, kenn ich alles schon (oder um Dr. Dre zu zitieren: been there, done that)!

Und ganz ehrlich: Oft halte ich einen Tag auch nur durch, weil ich weiß: ab 19.30h habe ich heute 'frei', denn der Papa hat heute 'Pflege- und Bettbring-Schicht', ich bin erst morgen wieder dran. Dann geh ich eben raus auf 'n Kölsch oder lasse mir die Badewanne einlaufen und leg' eine alte Platte auf und bin froh, dass ich es geschafft habe: mich einerseits wichtig ("ja, stellt Euch vor - mich gibt es auch noch!") aber andererseits nicht zu wichtig zu nehmen ("niemand kümmert sich um unseren Neuro-Patienten SO gut wie ICH!").

Dieses Wechselmodell hat keinen Allmachtsanspruch; es funktioniert für uns, das heißt beileibe nicht, dass es auch in Eurer Familie so praktikabel ist und ich bin gespannt von Euch zu lesen, wie ihr die Pflege und Behandlung untereinander aufteilt. Im besten Fall ist dies lediglich eine Anregung für Euch.

Also, verscheucht die Klischee-Gespenster und tradierten Rollenmodelle, die einen gerade in Momenten situativer Herausforderungen immer wieder einholen. Zu Eurem eigenen Vorteil. Euer (krankes) Kind braucht gestärkte, kraftvolle, ausgeglichene Mamas und/oder Papas und für die meisten von uns ist das nur möglich mit Auszeiten und fairen Aufgabenverteilungen.

Als Alleinerziehende/r ist die tägliche Pflege und der damit verbundene Kampf besonders herausfordernd. Ich kann nur erahnen, wie be- und überlastet ihr seid und ziehe meinen Hut vor Eurer Lebensleistung. Gerade hier ist es wichtig, sich freie Nächte oder Wochenenden zu gönnen (auch wenn keine Familie in nächster Entfernung wohnt:  welche Freundin kann und will nachhaltig als "Tante" aufgebaut werden? Wem ist auch die Pflege zumutbar? Unser Erstgeborener hat schon relativ früh gern bei einem guten Kita-Freund übernachtet, ausprobieren! Das eigene Kind nach der Kita auch einmal einer anderen Mama bzw. einem anderen Vater anvertrauen und zumindest einen Nachmittag kinder-frei nehmen! Gönn' Dir Zeit für Dich, nimm Dir Pausen, erkenne was Dir gut tut und zieh' es auch mal durch, wenn Dein Kind nicht begeistert davon ist. Denn was Dir gut tut und Dir Kraft gibt - sei es, sich mit Freunden zu treffen, Sport zu machen oder sich einfach nur einzumummeln und die Lieblingsserie auf Netflix zu Ende zu schauen -  ist mittelbar eine gute Investition in Dein Verhältnis mit Deinem geliebten Kind. Tanke insbesondere in schub-freien Phasen die Kraft auf, die Du in Zeiten des Schubs brauchen wirst. Es ist gar nicht so schwer selbst einem kranken Kind auch mal Nein zu sagen - nur Mut.