Kratzekind

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Atopiker - die "seltsamen" Kinder

"...Ach so, und ich dachte schon Euer Sohn hätte was Schlimmes, dann ist's ja halb so wild - hat ja heutzutage eh jeder Zweite, so 'ne Allergie oder Neurodermitis", sagte eine Nachbarin letztens zu mir als ich mit dem krankgemeldeten Großen morgens zu Kita-Zeit in der Apotheke anzutreffen war.

Hm. Stimmt eigentlich. In der Tat nehmen die atopischen Krankheiten, ganz vorne mit dabei die Allergien, in der Bevölkerung und damit auch bei Kindern und Babies stetig zu, werden immer häufiger diagnostiziert. Warum fühlen sich dann so Relativierungen für Betroffene trotzdem immer irgendwie doof an? Warum, frage ich mich, werden diese 'Volksleiden' hinter vorgehaltener Hand oft belächelt und als 'Modekrankheit' abgetan, als eher lästig denn Besorgnis erregend, als etwas 'nicht wirklich Schlimmes'? Manchmal, da fühlt es sich so an, als ob Asthma für die Mehrheit der Menschen "sowas wie 'ne Grippe" , Neurodermitis "die eklige Krankheit von so labileren Typen, die psychisch viel durchmachen" und Allergien meist nicht mehr sind als so ein "bissken Heu(l)Schnupfen". Lediglich der allergische Schock, z.B. bei Nuss-Allergie, stößt selektiv auf etwas mehr Aufmerksamkeit - ein aprupterer, vermeintlich gefährlicherer Krankheitsverlauf erscheint den meisten nahbarer, dramatischer und bedrohlicher als zähere, nicht unmittelbar lebensgefährliche, langwierigere atopische Leiden, die sich stärker im Verborgenen abspielen? Ich könnte mir vorstellen, diese Wahrnehmung mancher Menschen liegt in großen Teilen an der mangelnden Aufklärung.

Atopiker? - noch nie gehört. Dabei zählt die Mehrheit der 20-30 Millionen Allergiker in Deutschland zu diesem illustren Kreis der "seltsamen Menschen" (der griechische Terminus 'Atopie' bedeutet wörtlich übersetzt "das Ungewöhnliche" oder eben auch "die seltsame Menschen"). Die mangelnde Aufklärung soll bitte nicht falsch verstanden werden als individueller Vorwurf an jeden Einzelnen - bloss nicht! Was wir selbst nicht sehen und uns nicht betrifft, existiert quasi nicht - so geht es mir doch auch oft genug. Und z.B. gerade die nachhaltige Pflege, der tägliche Kampf gegen Hustefuchs und Kratzemonster, das Rätseln und Spekulieren über Triggerfaktoren & Unwägbarkeiten des Krankheitsverlaufs (wann kommt der nächste Schub, der "Etagenwechsel", etc.), der für mich oft den größten Energieraubbau darstellt, findet hinter geschlossenen Türen statt - dort ist keiner dabei. Da fühlt man sich zwischenzeitlich eben auch mal ziemlich einsam.

Vor kurzer Zeit gab es für mein Kratzekind ein aufregendes Ereignis: die jährliche Kitaübernachtung stand an! Diese Pyjama-Party ist für die Kids ein wichtiger kleiner Meilenstein, für viele ist es die erste Nacht außer Haus im Kreise ihrer besten Freunde und Erzieher. Wir lieben diese Kita für Ihre tollen Ideen und ihre herzlichen Mitarbeiter! Die Kleinen sind stolz wie Oskar, wenn sie am nächsten Morgen den Eltern zum gemeinsamen Brunch die Kita-Türe öffnen. Unser Großer freute sich wie verrückt auf den Tagesausflug in den Rheinpark, die anschließende Pizza- und Kissenschlacht, die Nachtwanderung, das gemeinsame Einschlafen und Aufwachen mit all seinen 'Kumpels'. Vorausahnend lies ich schon die Arzneimittel zu Hause im Schrank stehen, denn aus gutem Grund gibt es in den meisten Einrichtungen natürlich auch Regeln, inwieweit Kita-Personal zumutbar ist, Medikamente zu verabreichen (wobei dies eher ein moralisches als ein rechtliches Problem ist). Nur die sogar rezeptfreie UEA-Basis-Pflege, dachte ich, die muss sein vor dem Einschlafen. Warum? Weil bei starken Neurodermitikern die Barrierefunktion der Haut derart gestört ist, dass schon 24h Aussetzung der Pflege ausreichen können, um Reizstoffen & Allergenen Einlass durch die Haut in den Körper zu gewähren - die Haut als Einfallstor für Infektionen und Entzündungen, die noch nicht einmal lokal, also an der Haut, aufkeimen müssen sondern sich irgendwo im Körper entwickeln können.

Also, los ging's, ab in die Kita, von dort in den Rheinpark, dann die Pyjama-Party - yay! Am späten Nachmittag bekamen wir überraschend einen Anruf aus dem Kindergarten: wir wüssten doch, Creme auftragen dürfe man leider ohne explizite Übermittlung einer Anweisung des Arztes nicht - und die lag im akuten (schubfreien) Zeitraum natürlich nicht vor. Verdammt. Hätte ich vorher doch nur eine Erklärung des Artztes eingefordert - wobei: hätte ich die Notwendigkeit einer solchen bei der 'Verabreichung' eines rezeptfreien Produktes erahnen müssen? Vermutlich. Oder nicht? Zwei Optionen standen zur Auswahl: Entweder wir würden unser Kratzekind abholen zur Pflege (und danach zur Kita zurückbringen) oder die Pflege fiele eben aus. Mmmpf. Beides Mist. Mit der Abholung des Kindes riskierten wir das Scheitern der Übernachtung (welcher von den Eindrücken des Tages ermüdete Fünfjährige geht nach einer - im Zweifel nervenaufreibenden - Hautpflege-Session am Abend im Kinderzimmer danach wieder zurück in die Kita?). Aber der Pflegeausfall war noch weniger eine Option. Die rettende Idee kam uns spontan: "Ach, kein Problem, unser Großer ist ja schon 5 Jahre alt, der weiß Bescheid, er macht das einfach ganz allein und zeigt den anderen Kindern wie das geht!" - Damit umschifften wir die Kita-spezifischen Vorgaben und unser Großer konnte selbst im Kleinen bei den ganz Kleinen zur Aufklärung beitragen. 

Und siehe da: es klappte famos! Die Übernachtungsparty war ein voller Erfolg. Und die Kita-Freunde unseres Kratzekindes wissen jetzt schon mehr über Neurodermitis als so mancher der 'Großen'. Ich denke, das nennt man neu-deutsch eine klassische Win-Win Situation. Welch ein Glück.