Kratzekind

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Ein Jahr auf Weltreise mit Kratzekind - Halbzeitbilanz

Vor sechs Monaten haben wir unsere Wohnungsschlüssel vertrauensvoll in die Hände einer lieben, aus Afghanistan geflüchteten Familie gegeben, die Rucksäcke geschultert und sind gen Kanada aufgebrochen. Auf ins Abenteuer. Ein Jahr Auszeit frei nach dem Motto - wir sind dann mal weg! „Seid Ihr sicher, dass das gut geht? All die Sicherheit aufgeben für ein bisschen Spass - und dann? Wie soll das mit der gesundheitlichen Versorgung mit einem Kratzekind im Ausland funktionieren?!" Ein halbes Jahr ist nun um. Zeit für eine Zwischenbilanz.

Die Kleinen vergessen doch eh alles

Einige haben mich vorher kritisch ins Kreuzverhör genommen: Ein drei- und ein fünfjähriges Kind - was nehmen die schon mit an Erinnerungen von so einem Jahr auf Reisen? Die Erinnerungen werden doch fast alle gelöscht in so jungem Alter. Lohnt sich solch eine ‚Investition’ dann überhaupt? Auch ich hatte diese Zweifel. Nach nur einem halben Jahr ist für uns klar: unbedingt. Selbst wenn sich von diesen insgesamt 365 Tagen nicht ein einziger Moment in ihr Gedächtnis einbrennen würde (was ich bezweifele), so wird diese gemeinsame Zeit auch unbewusst unauslöschliche Spuren in ihrem Geist und in ihrer Seele hinterlassen. Das Leben - und wenn auch ‚nur‘ für ein Jahr - in enger Verbundenheit mit Natur und Familie wird ihren Charakter prägen, ihren Blick langfristig über den Tellerrand hinaus schweifen lassen, ihre Liebe zur Natur entfachen, ihre Neugier beflügeln, ihre Empathie beleben, ihren Verstand schärfen, ihre Weltoffenheit und Toleranz fördern, ihr Band untereinander stärken. Vorher waren sie Brüder. Erst auf Reisen sind sie Freunde geworden. 

Nicht für jede Familie stimmen die Lebensumstände für so eine Reise. Nur selten findet sich der ‚richtige‘ Zeitpunkt (und mit schulpflichtigen Kindern wird so ein Vorhaben nicht einfacher…). Nicht für jeden ist ein derartiges Unterfangen erstrebenswert oder gar familiär, gesundheitlich oder finanziell abbildbar. Nicht jeder ist ein Stück weit ein Risikotyp. Und nicht jedem gefällt ein Vagabunden-Leben aus dem Rucksack für eine so lange Zeit. Absolut verständlich. Und auch das ist vollkommen okay! Es passt einfach nicht immer und es passt auch nicht für jeden. Das einzige, was ich mitgeben möchte ist: gemeinsame (Aus-)Zeit ausserhalb der Komfortzone, sei es z.B. eine Mutter-Kind-Kur, ein Klinik-Aufenthalt an der See (es gibt viele Kliniken, in denen Geschwisterkinder bzw. Familien ebenfalls willkommen sind), eine gemeinsame Elternzeit für einige Wochen (oder Monate), Zelt-Wochenenden außerhalb des 0815-Rhythmus, ein Familienurlaub mal in der Natur statt im Rundum-Sorglos-Familien-Club-Hotel usw. Es gibt so viele Möglichkeiten, die nicht direkt das ganze Leben auf den Kopf stellen und doch so viel bewirken können, auch weit über die Haut hinaus. Zeit als Familie zu verbringen ohne fremdbestimmt durchgetaktet zu sein, ohne Kita-Abholzeiten und Wlan, ohne 24h-Erreichbarkeit, Smartphone und Allround-Entertainment-Programm (wir haben z.B. seit 6 Monaten kein Fernsehen geschaut), ohne Stundenplan und ständige Vergleichbarkeit (Was hat der andere? Was kann der andere?) - unbezahlbar. 

Ist doch eh viel zu teuer

Apropos Kosten: wer kann sich sowas überhaupt leisten? Ja, man muss in der Tat für einen längeren Zeitraum Geld zurücklegen und sparen, insbesondere wenn man Kinder hat, die auf Flügen schon meist den vollen Preis bezahlen (in der Regel ab zwei Jahren). Darüberhinaus kann man aber auch kreativere Wege nutzen, um die Kosten eines solchen Vorhabens zu kontrollieren. Etwa die Hälfte unserer Aufenthalte ist beispielsweise kostenfrei. Weltweit. Wie das funktioniert? Wir ‚erarbeiten‘ uns Kost und Logis regelmäßig auf Bio-Farmen im Rahmen eines Netzwerks, das den kulturellen Austausch fördert und derartige Aufenthalte möglich macht. Hier ist man als Erwachsener angehalten ca. 4h pro Tag zu arbeiten - vollkommen machbar für uns, auch mit Kindern, die dadurch das Landleben hautnah kennenlernen. Zudem sind wir mittlerweile absolute Farm- & Housesitting-Experten, passen auf Häuser und Haustiere anderer Familien auf, während die Eigentümer ihren Urlaub genießen. 2000 Schafe mussten wir z.B. in Australien über Weihnachten sitten - definitiv etwas anderes als der klassische Büro-Job! Auf diesem Wege lernen wir die spannendsten Orte und Familien kennen, oft fernab der üblichen Touristen-Routen. Ohne diese ‚finanziellen Erholungsphasen‘ könnten wir uns eine solche Auszeit überhaupt nicht leisten. So aber bleiben unsere Ausgaben im Durchschnitt zumindest vergleichbar zu denen zu Haus.

Und auch mein Kratzemama-Horizont erweitert sich durch das Reisen natürlich tagtäglich. Sicherheit, Bausparvertrag, Eigenheim, geregeltes Einkommen - all diese Realitäten (oder Illusionen?) sind für mich gerade in weite Ferne gerückt. Ein Leben zurück in der Großstadt, entfremdet von der Natur, einbetoniert unter einem Grau-in-Grau-Himmel? Ich schaue aus dem Fenster. Sehe die Kinder mit selbstgebastelten Angeln über dem kleinen Bach hantieren, der an unserer Hütte in den Bergen Neuseelands vorbeizieht - eine Rückkehr in den bekannten Alltag erscheint mir gerade kaum vorstellbar. Wir waren nie die großen Camper, Zelter, Kraxler, Öko-Naturburschen, Hüttenwanderer - und finden auf einmal Gefallen daran! 

Und was ist bitte mit der Haut?

Aber was ist mit der Angst, dass gerade das Kratzekind mit den Umständen auf einer solchen Reise nicht gut zurecht kommt, dass die Versorgungssituation kritisch ist, die notwendige Medikation und Pflege nicht erhältlich, das Klima nicht verträglich etc.? Ja, diese Risiken bestehen in der Tat. Aber wir nehmen sie in Kauf. Und bereuen es keine Sekunde, im Gegenteil. 

Wie gebeutelt die Haut und die Lunge unseres Kratzekindes vor der Reise waren, hab ich hier auf diesem Blog zu Genüge zum Besten gegeben. Das Immunsystem wurde mit Hilfe der täglichen Einnahme von Tabletten ausgetrickst, die Haut mit Elidel & Kortison bearbeitet, die Lunge mit Kortison, Salbutamol usw. ruhig gestellt, jeden Morgen und jeden Abend dieser Horror vorm Eincremen (bei Eltern und Kind gleichermaßen!) und, und, und - wieviel frustrierender und nerviger für alle Beteiligten konnte es denn eigentlich noch werden, abgesehen von langfristigen Krankenhausaufenthalten statt ’Stippvisiten’?! Dann doch lieber auf Risiko setzen, dachten wir uns, und den Fokus weg von der deutschen Großstadt-Glocke hin zu einem Leben mit Schwerpunkt Natur, mildes Klima (ein Jahr Winter- und damit Bronchitis-frei!) und Landleben legen, viel zu verlieren hatten wir ja kratzetechnisch nicht. Im besten Falle finden wir mehr über seine Erkrankung heraus (welch ein Luxus, 24h mit den Kindern zusammensein zu können), lernen seine Haut und ihre ‚Macken‘ noch besser kennen, ‚testen‘ Klimata, Umwelten, fremde Pflegeprodukte und neue Nahrung aus und schauen einfach was passiert. 

Und unglaublicherweise passierte sechs Monate relativ wenig! Wir sind so unfassbar dankbar, dass unser Kratzekind ein halbes Jahr lang nahezu beschwerdefrei sein konnte  (also, jetzt mal nach unseren Standards beurteilt - soll heißen: keine tägliche Inhalation, keine Tabletten und kein Kortison oder Elidel!) Ich weiß noch, wie ich schon nach dem ersten Flug beim Auspacken der Reiseapotheke in Panik geriet: die dicke Tube Elidel (ein Immunsuppressivum) war durch den Druck im Flieger geplatzt - wie soll das nur gut gehen, nun so ganz ohne Elidel im Gepäck?! Es ging gut. Lange. Die größte Tube Advantan (Kortison), die wir legal vor Reiseantritt in einer deutschen Apotheke erhalten konnten, verstaubte tief vergraben und verschlossen in unserer Reiseapotheke neben vielen anderen Tinkturen, Sprays, Cremes und Tabletten. Aus dem Auge aus dem Sinn. Klar, tägliche Pflege war und ist weiterhin Pflicht, denn Neurodermitis kann nicht einfach verschwinden; und auch, wenn es während dieses halben Jahres auch immer mal wieder turbulenter zuging in Haut-Sachen (inklusive noch überschaubaren Schüben), so fühlen wir uns bestärkt, dass unsere Entscheidung richtig war: nämlich, Haut, Lunge & Seele eine Auszeit zu gönnen. Raus aus dem Stress, den Kinder schon von kleinauf empfinden können (sogar noch im Mutterleib mit zum Teil fatalen Folgen). Sechs Monate haben Lunge und Haut durchgehalten, Kraft getankt, geatmet, sich erholt. Und wir auch. Alle vier. Gemeinsam. Welch ein Geschenk. 

"Mama, mir ist es hier zu heiß"

Sechs Monate hat die Haut es geschafft. Aber jetzt kam der Einbruch. Nach Stationen in Kanada, den USA, Japan und Australien wurde es der Haut zu bunt - bzw. zu heiß. Unser Thermometer zeigte in Australien auf einmal unglaubliche 50 Grad Celsius an; Ausnahmezustand in Down Under. Das hat die Lunge gut gepackt aber die Haut leider nicht. Und nun war sie so dermaßen angegriffen…weiterhin auf Kortison verzichten? Waren wir nicht fast ein bisschen stolz, dass wir es ohne das Wundermittelchen so lange geschafft haben? Ja. Dennoch glaube ich, es wäre fahrlässig wohlmöglich einer Superinfektion durch den weiteren Verzicht den Weg zu ebnen; zwei Wochen konnten wir die angegriffenen Hautpartien zunächst mit Zink & Basen-Therapie behandeln und im Zaum halten (z.B. mit Sudokrem, die sowohl in Kanada als auch in Australien und Neuseeland in Apotheken regelmäßig erhältlich ist). Aber die Ekzeme schlossen sich nicht, sind offen und wund. Und vor allen Dingen breiten sie sich aktuell wie ein Flächenbrand aus. Daher galt es für mich die Reißleine zu ziehen. Mein Kind soll keine Schmerzen leiden, nur weil ich meine, mich über das schulmedizinisch Gebotene hinwegsetzen zu können und vor dem Kortison die Nase zu rümpfen. Vor zwei Tagen wurde also die verstaubte Advantan-Tube geöffnet.

Zwei Tage später. Ich höre das Glucksen meines Kratzekindes im Spiel mit Raupe, dem Bruder im Schatten eines chronisch kranken Kindes, und denke: es war die richtige Entscheidung. Zum Glück sind wir zudem vor einer Woche aus Australien nach Neuseeland geflüchtet; hier ist das Klima deutlich milder. Hitze und Kälte - beides Feindbilder der Neurodermitis, denen es weitestgehend auszuweichen gilt, kommen uns hier bislang nicht in die Quere. Insbesondere hohe Temperaturen bekommen unserem Kratzekind einfach nicht; Hitze ist ein Nährboden für so ziemlich alles, was seiner Haut schadet. Bakterien, Pilze, Schweiß, Trockenheit, Infektionen. Dann fehlt nur noch ein Funke; mal kann es das Salzwasser sein, mal eine scheuernde Hose oder eine ‚falsche‘ Sonnencreme - und das Feuer ist eröffnet. Daher also jetzt eine Phase mit Kortison. Und deshalb ist man nicht gleich eine Rabenmama! Nur bloß richtig Ausschleichen, logo ;-)

Puh, jetzt wollte ich noch so viel bilanzieren und berichten, z.B. was für fremde Produkte uns bislang auf unserer Reise für die Haut über den Weg liefen (u.a. Schafsplazenta-Creme in Australien oder Pferdeöl-Lotion in Japan!) - aber: das hole ich im nächsten Blog-Post gleich nach, ganz bestimmt :-)