Kratzekind

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Manchmal ist alles Mist - über Herrn Prick und misslungene Arztbesuche

An manchen Tagen ist einfach alles Mist. So wie heute. Wenn man nach netto maximal 3h Schlaf aufgrund von diversen Kratze- & Juckmonsterangriffen morgens in den Spiegel schaut, die Krater rund um die Augen sieht und denkt: "Schön! Einen beschissenen guten Morgen wünsche ich! Das wird ein richtig toller Tag!" Und wenn einem dann noch einfällt, welcher Termin heute noch ins Haus steht…Hilfe!

Die ganze Woche war schon irgendwie vermurkst. Kratzereien, schlechte Laune, weiterhin Pilz-Risotto unter den Füßen, die Schub-baut-sich-auf-Phase. Kein Spässken sondern eher das verkorkste 'Wir-ratten-uns-alle-permanent-an-und-nachher-tut's-uns-leid"-Stadium. Und der Höhepunkt noch zum Ende der Woche: der anstehende Allergie-Test-Termin. Yeah! Es sollte mal wieder ein Bluttest zwecks Allergiebestimmung gemacht werden, bei dem das Blut auf Antikörper (Immunglobuline) untersucht wird. Das Vorhandensein von Antikörpern in hoher Zahl kann (muss aber nicht!) das Ergebnis einer Überempfindlichkeitsreaktion durch eine Allergie sein. Da wir immer noch nicht wissen, ob, und wenn ja, welche Trigger bei unserem Großen die Schübe hervorrufen, sind diese Tests wichtig. Und da sich Allergien über die Zeit verändern, stand die Prozedur nun wieder an. Und weil's so schön ist, kommt der Bluttest natürlich gleich in Kombination mit dem auch zuweilen unangenehmen Prick-Test daher, bei dem das Allergen unter die Haut geritzt wird, um im direkten Kontakt mit der Haut eine etwaige Reaktion zu untersuchen (Nachweis von Typ-I-Allergie). Dabei muss man eine Weile stillsitzen – auch eine der Top-Fähigkeiten unseres rebellischen Kratzekindes! Herrlich, los geht's.

"Warum heißt das Prick-Test, Mama?", fragte mich mein Kratzekind bereits am Vortag, nachdem ich gaaaaanz beiläufig in meinen nicht vorhandenen Bart genuschelt hatte, dass wir am nächsten Morgen mal kurz beim 'Onkel Doc' vorbeischauen müssten. "Den hat der schlaue Herr Prick erfunden", faselte ich daher (Mama weiß doch alles – äh, nein..!), dabei ist das vollkommener Unsinn, denn den lieben Herrn Prick gibt's gar nicht wie ich erst später nachlas. Der Name des Tests kommt tatsächlich vom Englischen Verb 'to prick', dh. 'jemanden stechen'…wusste ich nicht. Habe ja nur fünf Jahre im englischsprachigen Ausland gelebt – so richtig viel ist da wohl auch nicht hängen geblieben…Hmpf. Ach egal, die wahre etymologische Herleitung (stechen) hätte sicherlich nicht zur Beruhigung des Kratzekindes beigetragen, also ließ ich das einfach mal so stehen mit dem Herrn Prick. So oder so, diese Nuschel-Taktik, nach dem Motto 'ich bin ehrlich zu dem Kind aber nur so ein bisschen in der Hoffnung, dass sich die Info nicht zu stark ins Hirn einbrennt' kann ich trotz gefühlt 100.000-maliger Anwendung nicht empfehlen! Über dem Kopf des Kratzekindes erschien sofort ein imaginäres rot-aufleuchtendes Warnsignal mit der Aufschrift "Prick? Arzttermin? HYPER SUSPEKT". Und so nahm das Drama seinen Lauf, bevor es überhaupt angefangen hatte.

Nachdem ich am nächsten Morgen bereits mehrere 'Ich will nicht zum Arzt'-Attacken galant abgewehrt hatte, fand ich mich (noch) pünktlich im Auto hockend auf dem Parkplatz des Kinderarztes wieder. "Ich steige hier nicht aus!" – Herrlich! Warum erwische ich immer diese Vormittage? "Komm, wir ziehen das hier ganz schnell durch und danach holen wir uns 'ne Tüte heißer Croissants beim Bäcker und mampfen die alle auf" – nach leichten Anlaufschwierigkeiten vernahm ich irgendwann endlich ein gequältes "Na gut" von der Rückbank. Erleichterung machte sich breit. Jetzt hab ich ihn, dachte ich. Zu früh gefreut! Kaum waren wir draußen, juckten ihn die Croissants nicht mehr – er dampfte ab, lief einfach weg, quer über den Parkplatz und verschwand zwischen den Häuserfluchten des Wohngebiets. Mir schlug das Herz bis zum Hals; Nervosität, natürlich mittlerweile mal wieder viel zu spät dran und dann noch ein rebellierendes Kratzekind (für alle, die keins haben: die Biester sind verdammt willensstark!), das gerade um die Ecke peste. Maaaaaaaaaaan! Ich spule jetzt mal vor: Ich losgespurtet, wiedergefunden, überredet, nochmals weggelaufen, vollgetextet, gut zugeredet, laut geworden, gestritten, dann ich wütend abgedampft, Kratzekind missmutig hinter mir her getrottet, ab durch die Praxistür.

Durchatmen. Damit war die schwierigste Hürde erfolgreich genommen. Dachte ich.

Als wir dann endlich im Behandlungszimmer ankamen, war zunächst alles erstaunlich cool. Das Kratzekind war ruhig, schaute sich ein Buch an, alles easy-beasy. Oh, wie der Schein doch trügen kann! Kaum kam die Arzthelferin mit den 'Utensilien' des Herrn von und zu Prick um die Ecke, war die Entspannung passé. Unruhig, den eigenen T-Shirt-Ärmel aufmampfend und angespannt schubberte unser Großer auf der Behandlungsliege hin und her während die Fachkraft in aller Ruhe die Fläschchen und speziellen Nadeln (Lanzetten) sortierte. Da die Haut unseres Großen an Armen und Beinen in einem so schlechten Zustand war, kam der Test nur auf dem Rücken liegend in Betracht. Juckt mich nicht, dachte ich, Hauptsache wir geben Gas! Das Nervositätsbarometer schlug schon wieder aus.

Jetzt ging's los. Alle waren bereit, selbst das Kratzekind, das, auf dem Bauch liegend, verkrampft meine Hand hielt. Go!

"Haben Sie das Kind etwa heute Morgen eingecremt?", fragte mich die Arzthelferin auf einmal während sie die Allergieextrakte vor dem Kind aufbaute. Häh? Will man mich jetzt auf den Arm nehmen? Natürlich habe ich das Kind eingecremt! Wieso auch nicht, mir wurde nichts Gegenteiliges vorab angeraten. "Tja, dann können wir den Test nicht machen, die Haut muss frei von jedweden Substanzen sein". Bitte, was? Während sich meine Augen verdüsterten, funkelten die des Kratzekind auf wie Diamanten! Arggh, bitte nicht, dafür habe ich nicht schon 2h Odyssee hinter mir und dieses Kind mit Engelszungen in das Behandlungszimmer bugsiert. "Das kann man doch sicher abwaschen, ist auch schon 3 Stunden her", schlug ich kleinlaut vor. Die überraschende Antwort: "Ja, stimmt, dann waschen Sie das mal ab". Die noch eben mit einem Hoffnungsschimmer verzierten Augen meines Sohnes verdunkelten sich; Zorn, Enttäuschung und Verzweiflung bahnten sich spürbar ihren Weg, die Explosion stand kurz bevor. Erde an Fachkräfte: Wofür diese Verunsicherung?!

"Na dann waschen wir das mal ab und danach legen wir los. Kein Ding", preschte ich hervor aber es war schon zu spät. Drei, zwei, eins – vorbei.

"Lass' mich in Ruhe, die soll abhauen! Hau ab, man!", bellte das Kratzekind der sichtlich erschrockenen Arzthelferin entgegen. Er schrie wie am Spieß und tobte, sprang von der Liege, schimpfte, stampfte mit den Füßen, boxte mit den Fäusten, versteckte und verbarrikadierte sich, Tränen schossen in Strömen aus den Augen, eine Mischung aus Wut und Angst verzerrte sein Gesicht.

"Hör mal, junger Mann, ich bin freundlich zu Dir, da kannst Du gefälligst auch freundlich zu mir sein", fauchte die Fachkraft entgeistert. Oh je, bei aller Liebe aber so eine Bemerkung konnte doch nur eine Verschlimmbesserung auslösen, auch wenn diese Reaktion der Angestellten absolut berechtigt und nachvollziehbar war. Und selbst wenn einem das Verhalten des eigenen Kindes manchmal verdammt peinlich ist (zum Beispiel in dieser Situation!); so ein Satz macht es nicht wirklich besser, weder für das Kind, noch für die frustrierten, gegebenenfalls peinlich berührten Eltern. Ich murmelte ein "T'schuldigung", die Assistentin verkrümelte sich bedröppelt und der Arzt erschien. Ein letzter Versuch: "Komm, das schaffen wir, ist echt nicht schlimm – kriegst auch ein Gummibärchen." "Ich hasse Gummibärchen!", hörte ich leise ein tränenbedecktes Stimmchen unter der Liege. Das stimmt. Er kann sie nicht ausstehen.

Der Drops war gelutscht. "Lassen wir's gut sein", sagte schließlich unser Kinderarzt erfahren und verständnisvoll. Ich schämte mich dennoch ein klitzekleines bisschen; hier sollte doch keiner abgeschlachtet werden, nur ein kleiner Test, der nicht wirklich sooooo weh tut und nur dem Wohle des Kindes dient aber - er hatte Recht, denn: was war die Alternative? Sollten wir das Kind fixieren, traumatisieren? Wohl kaum. Dann kriegen wir es beim nächsten Mal noch nicht einmal mehr ins Auto, geschweigedenn durch die Praxistür. Ergo: Durch das Ding. Manchmal ist es eben einfach ein Arztbesuch zu viel.

Zum Bäcker gingen wir trotzdem und holten uns eine volle Tüte Frust-Fressalien. Aufgegessen hab ich die Tüte fast allein. Wir redeten nicht viel. Danach fuhr ich ihn in die Kita. Am Eingang drückten wir uns lange. "Dieser Herr Prick ist kacke, Mama" - dann sauste er davon. Ach ja. Das Kind ist sprachbegabt, denn in der Tat hat das Nomen 'Prick' im Englischen noch eine ganz andere Bedeutung ;-). Und Recht hat unser Großer auch irgendwie. Vielleicht klappt's ja nächstes Mal. Ich übe mich derweil in Gelassenheit. Da habe ich bestenfalls noch eine steile Lernkurve vor mir, da ist noch viel Luft nach oben. Gleich nächste Woche kann ich wieder üben, da haben wir - ausnahmsweise mal ganz unabhängig von der Atopie - einen großen Impftermin, gleich fünf Spritzen auf einmal. Na, das wird sicher lustig.