Kratzekind

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Über Nesselsucht und andere Haut-Ungeheuer

Liebe Kratzekind Freunde, Mamas & Papas,

Dachtet ihr schon, wir wären verschollen? Kratzemonster und Hustefuchs seien ausgewandert?

Erst einmal ein dickes Sorry, dass es eine Weile etwas ruhiger war auf dem Kratzekind-Blog. Ich werde Euch nicht mit den Details langweilen. Aber nach ein paar abstrusen juristischen Querelen um einen Artikel auf diesem Blog, fehlte mich gelinde gesagt einfach die Lust zum Schreiben. Aber jetzt ist sie wieder da!

Zurück zur Atopie, die natürlich nicht verflogen ist. Von dem Gedanken, dass eines Tages Bibi Blocksberg auf Kartoffelbrei vorbeirauscht, die Neurodermitis & Co. einfach weghext und dann Karla Kolumna einen tollen Artikel darüber schreibt, haben wir uns verabschiedet. Und Ihr?

Wollte Euch kurz ein Lebenszeichen hier lassen und Euch fragen: wie geht es Euren Kratzekindern, Allergie-Agenten und Hustelinchen, was gibt’s Neues?! Hat jemand ein Allheilmittel gefunden während wir untergetaucht sind? Oder gibt’s einen neuen Wunderheiler am Horizont ;-)? Lasst mich bitte wissen, wie es Euch ergangen ist in der letzten Zeit!

Bei uns gab‘s in der letzten Zeit viel Neues aber erfreulicherweise keine langatmigen Neurodermitis-Schübe, beängstigende Asthmaattacken oder massive Allergie-Ausbrüche. Warum? Wenn ich das wüsste :)

Klar, Zufall ist immer eine Möglichkeit. Aber kann man dem Zufall ganz vielleicht auch ein klitzekleines Stück entgegenkommen?

Immer mehr kommen wir zu der Erkenntnis (und, wie treue LeserInnen wissen, hege ich hier keinen Allwissenheitsanspruch!), dass Stress, Temperaturschwankungen sowie extreme Hitze bei unserem mittlerweile 7-jährigen Hautrebellen die stärksten Trigger sind.

Seit Jahren merken wir wie stark unser Kind auf Stress reagiert. Zudem fiel uns über die Zeit auf, dass alles unter 0 und über 28 Grad Celsius Außentemperatur hauttechnisch voll in die Hose ging. Also haben wir an genau den beiden Stellschrauben gedreht. Gerade den ersten Punkt kann man in die Hand nehmen, erfordert aber enorm viel Arbeit, vor allem Reflektion, Disziplin und Zeit, denn ein Normenkostüm, das man möglicherweise von Kindheitsbeinen an erlernt hat, schüttelt man als Erwachsener nicht einfach mal eben so ab. Es ist ein mitunter schmerzhafter und langwieriger Prozess, in dem man versucht, sukzessive die eigene „Agenda“ aus Erwartungen, Ansprüchen, Forderungen, vermeintlichen Förderung und Zielen, mit der wir unsere Kinder tagtäglich konfrontieren, massiv abspeckt und entschlackt. Nochmal: Ich will hier niemandem etwas empfehlen, sondern lediglich unseren Weg mit Euch teilen. Jeder muss seinen eigenen Weg durch dieses oft dunkle atopische Tal finden.

Gerade die Stressreduktion ist aber einer der wenigen Trigger, die man selbst in die Hand nehmen kann als Familie; gesamthaft oder individuell als Vater oder Mutter (dazu gibt’s auch noch einen separaten Blogeintrag, schaut mal nach bei Bedarf). Für unsere Familie war der Stress im Nachhinein betrachtet sicher ein Schlüsselthema.

Wie oft dränge ich dem Kind meine Wünsche, meine Hoffnungen und Ambitionen auf? „Das Kind soll es doch einmal gut haben, besser haben als ich; aus dem Kind soll was werden, es soll seine Potentiale entfalten und deshalb müssen wir es auf Biegen und Brechen fördern!“ Wann lasse ich das Kind einfach mal in Ruhe und wusele nicht ständig im Weg herum oder störe es in seinem konzentrierten Spiel? Wie viele total überflüssige Hobbies stülpe ich dem Mini-Me über? Muss ein 6-jähriger wirklich in die zweisprachige Kita, die musikalische Früherziehung, den Karateunterricht und den Fußballclub während beide Elternteile neben den Kinder noch ihren Beruf, Sozialleben und Haushalt jonglieren? Vielleicht ist Stress nicht bei Euch der entscheidende Faktor aber seit wir den Stress versuchen zu minimieren – seit etwa drei Jahren – geht es mit der Atopie definitiv bergauf.

Weniger Playdates, weniger Pflichttermine, mehr Freiheit für Spiel und Seele baumeln lassen. Ein entscheidender Schritt für uns zudem: Beide haben wir unsere Arbeitszeit reduziert. Das funktioniert offensichtlich nicht für jede Familie, denn damit einher gehen oft etwaige finanzielle Einbußen oder Karriereumwege. In unserem Fall haben wir derartige Konsequenzen in Kauf genommen zugunsten der daraus resultierenden Vermehrung der Familienzeit. Wie lange das funktioniert bleibt abzuwarten aber vorübergehend lässt es alle aufatmen, denn: Sobald beide (!) Elternteile weniger Stress in die Familie tragen, schlägt die Ruhe auf die Kinder durch.

Das heißt aber nicht, dass die Atopie sich aus der DNA verabschiedet hat, natürlich nicht. Ein Beispiel: Gräser werden jedem Gräser-Allergiker auf den Zeiger gehen, egal, ob tiefenentspannt oder ultragestresst, egal wo man auf der Welt sesshaft wird, es sei denn man ist bereit auf den Mount Everest oder in die Atacama-Wüste zu ziehen. Aber vielleicht schlägt die Allergie bei Stressreduktion nicht ganz so stark durch, vielleicht kann man dazu beitragen, das Fass nicht jedes Mal zum Überlaufen zu bringen, vielleicht kann man durch mehr Ruhe das Frühwarnsystem für sich selbst oder sein Kind verbessern, dass ein vorbeugendes Tätigwerden ermöglicht. Vielleicht aber auch nicht. Das muss jede Familie für sich herausfinden.

Unterm Strich hatten wir also in den letzten Monaten deutlich weniger mit Schüben zu kämpfen, warum auch immer. Allerdings sahen wir uns zum ersten Mal in der Haut-Karriere unseres Kratzekinds mit einem akuten Nesselsucht-Anfall konfrontiert. Ich wusste bis dato von der Nesselsucht (Urtikaria) so gut wie gar nichts. Habt ihr schon mal damit zu tun gehabt? Wenn ich in der Haut-Literatur darüber stolperte, überflog ich in der Vergangenheit die Nesselsucht-Passage immer oder scrollte in Texten online direkt zum nächsten Absatz. „Betrifft uns nicht“, dachte ich immer und das war’s. Jetzt auf einmal tauchte die Nesselsucht auf dem Körper unseres Kratzekinds auf wie aus dem Nichts.

An dem besagten Tag hatte unser kleiner Atopiker eine Schulaufführung. Nichts Wildes, ein Gruppentanz, eingebettet in ein Programm, zu dem jede Klasse einen Programmpunkt beisteuerte. Anfang der Woche fiel er zwei Tage aus und hütete das Bett, er hatte sich einen Infekt gefangen, der jetzt aber schon wieder verflogen war.

Am Abend vor dem Auftritt sah ich beim allabendlichen Eincremen mit der Basispflege einige Rötungen. „Juckt das?“ fragte ich unseren Ältesten und begutachtete die fraglichen Stellen. „Ne, Mama, jetzt mach schon, keinen Bock hier noch länger blöd rumzustehen, ist kalt", raunzte er charmant zurück. Da dachte ich mir noch nichts dabei. Während des Auftritts am nächsten Tag sah ich, wie nervös und fahrig er war, zum einen sicherlich der Performance geschuldet, zum anderen aber auch offensichtlich der Haut, denn, während die eine Hand (die übrigens zu allem Übel auch noch in einem Gips steckte aufgrund eines Kletterunfalls fünf Wochen zuvor) bemüht war, die Fahne zur Musik zu schwingen (vollkommen off-beat übrigens!), griff die andere immer wieder für Bruchteile von Sekunden ans Bein oder an den Rücken. Kratz, kratz.

Zu Hause angekommen sahen wir erst das ganze Ausmaß. Mittlerweile konnte er nicht mehr eine Sekunde still stehen ohne sich zu kratzen, am ganzen Körper war seine Haut gerötet und von dicken, großflächigen Quaddeln übersäht. Die Panik stand ihm in den Augen. Zudem wirkte die Haut an vielen Stellen total geschwollen, insbesondere an Hand- und Fußrücken. Er schrie und tobte. Baden, Duschen, Wickel, Cremen – kein Effekt. Es wurde minütlich schlimmer. Die Haut war vollends außer Rand und Band. Wir waren total ratlos, innerhalb von nur 16 Stunden entwickelte sich die Haut unseres Kratzekindes zu einer Ganzkörperkraterlandschaft! Kratz, kratz. Die ersten Stellen waren aufgeschürft und bluteten.

„Hm, könnte das vielleicht diese Nesselsucht sein, ich schau mal nach, was das nochmal ist“, rief ich hektisch während ich hastig N-E-S-S-I-E-S-U-C-H in Google einhackte. Ein angsteinflößendes Bild von Nessie prangerte plötzlich auf meinem Display. „Oh Gott, wer oder was ist das!?“,  schrie unser Kratzekind entgeistert, der sich generell nicht für spannende Literatur oder Filme begeistern kann. In der jetzigen Situation, die schon fast mit einer Panikattacke vergleichbar war, kamen derartige Gruselbilder definitiv nicht gut an. „Ne“, warf ich ein, „das ist nur Nessie, das Seeungeheuer“, antwortete ich schnell und unüberlegt.

„Seeungeheuer?! Was?! Was hat dieses Monster mit meiner Haut zu tun?!“, rief er. Manchmal ist die Kinderphantasie einfach grenzenlos

„Hä?! Nix natürlich! Nesselsucht, nicht Nessiesucht! Klassischer Tippfehler. Ach, ist ja auch egal, erklär ich Dir im Auto, ab zum Arzt!“ Für tiefergehende Erklärungen hatte ich grad keine Zeit.

Der zuständige, uns fremde Arzt untersuchte die Haut und sagte: „Als erstes nehme ich den Gips ab, um zu sehen, ob da drunter eine bakterielle Entzündung und damit der Auslöser liegt. Als zweites gehen sie zur Apotheke und besorgen sich Antihistaminika und Kortison. Als drittes hoffen sie, dass beides über Nacht anschlägt, sonst sehen wir uns morgen im Krankenhaus wieder, da hab ich nämlich morgen Dienst.“

Mist, und gerade jetzt war unser geliebter Kinder- und Hautarzt Millionen Lichtjahre von uns entfernt. War diese Kombination wirklich das gebotene Mittel der Stunde? Ich denke ja. Denn erstens ist er der Arzt, nicht ich. Ich möchte hier weiß Gott keine Götter-in-Weiß-Lobpredigt halten aber 12 Semester Studium, zwei Staatsexamina, eine Promotion und eine 4 bis 6-jährige Facharztweiterbildung sind im Regelfall immerhin schon einmal ein Argument dafür, die Einschätzung des Arztes grundsätzlich ernst zu nehmen. Ja, es gibt auch Ärzte, die vermeintlich weniger über Atopie wissen als viele besorgte und wohlinformierte Mütter und Väter, und viel zu schnell und häufig Kortison verschreiben aber einen entscheidenden Vorteil hat der Arzt: er ist neutral. Gerade hier ist Vorsicht geboten. Es gibt schlechte Ärzte. Aber kaum einer will dem Kind Schaden zufügen. Einer Medikation geht immer eine Abwägung voraus, sowohl beim Mediziner als auch bei den Erziehungsberechtigten. Zweitens musste akut Hilfe her. Es war das, was man unter einem Notfall versteht. Drittens gab es in diesem Moment schlichtweg keine Alternative. Ich schaute auf unser Kind. Es war nicht mehr es selbst, der Leidensdruck war nicht mehr mitanzusehen. Es litt augenscheinlich wie ein Hund. Wir befolgten den Rat des Arztes.

Unter dem Gips versteckte sich zwar eine bakterielle Entzündung aber in einem so geringen Ausmaß, dass die Ärzte nicht davon ausgingen, dass sie den Ausschlag für die Hautreaktion gegeben hat. „Immerhin ist der Gips früher ab als geplant“, freute sich das Kratzekind später. Ob es am Infekt lag? An der Aufregung wegen des Auftritts, sprich, dem erhöhten Adrenalin im Körper? Keiner weiß es. Fakt ist: Am nächsten Tag war die Nesselsucht verschwunden. Einfach so. Kein Hauch einer Spur war mehr zu finden, wie Nessie einfach abgetaucht als ob es ihr Auftauchen nie gegeben habe. Natürlich spielt das Kortison hier eine entscheidende Rolle. In diesem Fall war es aus unserer Sicht das richtige Mittel der Wahl. Was hättet ihr getan?

Abgesehen von dieser Aufregung hatten wir über den Herbst bislang lediglich mit einer dicke Dornwarze unterm Fuß (ihh!) und diversen Pilzen zu kämpfen (wie ihr sicher wisst, ist die Haut eines Atopikers aufgrund ihrer Prädisposition extrem anfällig für derartige Ganoven. Daher auch immer dran denken die Fußsohlen beim Eincremen nicht zu vergessen, da sich sonst durch kleine Risse ‚Untermieter‘ einnisten). Sonst nichts. Dieser ‚entspannte‘ Herbst ist für uns definitiv ein weiterer Teilerfolg auf unserer Haut-Reise.

Oft geht es einen Schritt nach vorn und zwei Schritte zurück. Manchmal aber auch drei Schritte geradeaus. Daher: Bloß nicht den Mut verlieren! Mal schauen, was der Winter noch für Überraschungen bringt. Hoffentlich Schnee. Da würden sich das Kratzekind und sein Bruder Raupe sicher freuen. Warten wir ab, was die Haut dazu zu sagen hat.

Ps: Lasst mich doch bei Gelegenheit wissen, welche Meinung Ihr zum Stress habt und ob Euch die Nesselsucht schon einmal (oder chronisch?) heimgesucht hat. Ich freu mich.