Mysterium Haut - das kleine 1x1 für Kratze-Eltern
Mit den Organen und Fähigkeiten unseres Körpers ist es doch ein bisschen so wie mit verflossenen Lieben: man weiß erst, was man an ihnen hat, wenn sie nicht mehr da sind bzw. nicht mehr so agieren, wie wir es uns wünschen. Bevor unser Kratzekind die Diagnose 'atopische Dermatitis & Asthma bronchiale' mit ca. 2 Jahren bekam, hatte ich mir noch nie so richtig Gedanken darüber gemacht, wofür die Haut eigentlich da ist - außer: Speck, Knochen und Organe mehr oder weniger gut 'in Form' zu halten. Klar, unser Kratzekind hatte (falsch; hat) eine auffällige Kopfhautbeschaffung, die ich anfangs lax als "Milchschorf" abtat und mich lediglich wunderte, warum viele Mütter anderer kleiner Spielgenossen eben diesem Schorf mit ein bisschen Olivenöl den Garaus machten, während dieser bei uns tendenziell immer mehr wurde als weniger. Klar, er hatte zahlreiche Infekte und Ekzeme - aber Neurodermitis?! Ich hatte nie Hautprobleme, nie mit Akne in der Pubertät gekämpft, keine Pickel oder Furunkel abdecken müssen, keinen Sonnenbrand, Allergien oder Pigmentstörungen erlitten. Auch der Kratzepapa ist nicht vorbelastet. Ehrlich gesagt, hatte ich mir bis dato noch nicht einmal bewusst gemacht, dass auch die Haut selbst ein Organ ist, das mit anderen Organen im Zusammenhang steht und nicht nur eine ledernde Hülle. Und selbst nach der Kratzekind-Diagnose irrte ich - aus der Retrospektive betrachtet - fast zwei Jahre nahezu ahnungslos umher; von Haut- zu Hautarzt, Kinder- zu Kinderarzt, Heilpraktiker zu Klinik und wieder zurück, um nicht selten nach einem Termin noch verwirrter mit einem umfangreichen Rezeptblock in der Hand zurückzubleiben - nichts brachte den gewünschten Erfolg. Und: so richtig blickte ich nicht durch, mit was wir es eigentlich zu tun haben - so'n bisschen trockene Haut, das muss doch hinzukriegen sein?! Mir fehlte in Beratersprech ausgedrückt das "Big Picture".
Solche Odysseen sind meines Erachtens vollkommen vermeidbar. Das heißt nicht, dass, selbst mit 'mehr Durchblick' meinerseits und frühzeitiger Involvierung von echten Spezialisten, der Zustand der Haut unseres Kratzekindes heute ein besserer wäre; die Haut macht was sie will und tatsächlich 'steckt da keiner drin' aber: die Neurodermitis & damit auch das Asthma, insbesondere die Schübe, wären für die ganze Familie unaufgeregter, kontrollier- und planbarer gewesen.
Einen Kurplatz bekamen wir zunächst nicht - zum einen waren (und sind) Kliniken über Monate ausgebucht, zum anderen stellte sich die Versicherung quer. Von der Litanei über formalistische Beantragungen und Kleingedrucktes will ich gar nicht erst anfangen zu schreiben. Zudem: eine mehrwöchige Kur bringt das Leben einer Familie, insbesondere mit mehreren Kindern und zwei erwerbstätigen Eltern, extrem durcheinander. Keine Option. Und weiter ging die Reise von Pontius zu Pilatus, von Kortison zu Nahrungsmittelergänzung, von Noni-Saft & Globuli zu Elidel & Singulair und wieder zurück oder, wie meine Mutter zu sagen pflegt: 'rinn in die Kartoffeln un' russ us die Kartoffeln'.
Erst Jahre nach dem ersten Verdacht und noch sehr lange nach der 1. Diagnose landete ich auf Empfehlung in einer Schulung für betroffene Eltern zum Thema Allergie- und Asthmakranke Babies & Kinder. Hier in den Seminaren gab es über mehrere Wochen hinweg tatsächlich die Zeit und den Raum Fragen zu stellen und Zusammenhänge zu verstehen, Ärzte und Laien, Therapeuten und Ökotrophologen, alle an einem Tisch. Endlich Licht am Ende des Tunnels, endlich ein erstes Aufflackern von Entspannung (durch Begreifen und Teilen).
Ein Beispiel: so ganz hatte ich nie begreifen können, warum Asthma und Neurodermitis regelmäßig im gleichen Atemzug genannt werden. "Ich habe halbwegs verstanden was Neurodermitis ist. Und auch grob begriffen, was Asthma sein soll. Aber warum machen diese beiden Krawallbürsten just bei meinem Kind regelmäßig gemeinsame Sache? Warum geben sich der Hustefuchs & das Kratzemonster bei uns die Klinke in die Hand? Was haben Lunge und Haut für einen Deal miteinander?". Diese und andere Fragen stellte ich in der Elternschulung erstmalig frei heraus.
"Haut ist Haut, egal wo", antwortete die patente & kompetente Schulungsleiterin salbungsvoll (selbst keine Ärztin sondern seit Jahrzehnten betroffene Mutter). "Sehen Sie es so: Ihr Sohn hat eine "genetische Disposition", das ist die atopische Veranlagung. Der Fokus liegt bei ihm zwar aktuell vielleicht sichtbar auf der Haut. Aber eben nicht nur auf der Haut an der Körperoberfläche (also der Epidermis, der Leder- und der Unterhaut), sondern auf allen Häuten und damit auch auf den SchleimHÄUTEN im Inneren des Körpers. All diese Häute, Innen und Außen, sind extrem empflindlich und verletzlich und neigen darüberhinaus zum 'Abwehrkampf' gegen 'harmlose' Stoffe. Da liefern sich also die Schleimhäute in den Atemwegen einen Kampf mit diversen Gegnern während die Epidermis an der Außenfront mehr als genug zu tun hat, um den nächsten Angriff abzuwehren". Aha! Haut ist Haut - logo! So plastisch auf den Punkt gebracht hatte mir noch kein Arzt den Zusammenhang im atopischen Formenkreis erklärt.
Mit der Zeit fuchste ich mich mehr und mehr hinein in das Thema und begann mich auch für die Konstitution der Haut meines Kindes zu interessieren, praktisch und theoretisch. Zum Beispiel fehlt es der Haut aufgrund ihrer genetischen Disposition nachweislich an Filaggrin, einem körpereigenen Protein, das eine strukturbildende Funktion hat und dessen Abwesenheit die Ekzembildung verursacht. Noch ist dieses Defizit nicht künstlich auszugleichen aber es macht mir Mut und gibt mir mehr Sicherheit diese Zusammenhänge zumindest in Ansätzen zu verstehen. Die Neurodermitis kommt also nicht einfach aus dem Nichts 'angeflogen' und 'befällt' mein Kind; sie ist nachweislich schon längst da, lange bevor Eltern und Umwelt viel falsch gemacht haben können; sie ist also der Igel, nicht der Hase. Bald stieg ich auch dahinter, dass die Haut von Neurodermitikern nachweislich weniger Schweiß- (und Talg-)Drüsen aufweist - folglich funktioniert die natürliche Abkühlung des Körpers nicht reibungslos, das heißt, die Hitze staut sich oft unter oder auf der Haut. Beim Fahrzeug würde man sagen: "Dä Kühler is im Eimer'. Erstmals begriff ich, warum unserem Kratzekind oft selbst noch bei sehr frischen Temperaturen so warm war. Das war also keine 'Macke', kein 'Wichtigtun' vor anderen Kindern, keine Trotzreaktion auf Gott-weiß-was, sondern pure Notwendigkeit - und ich Depp nötigte ihn regelmäßig dazu bloß seine dicke Jacke (selbstverständlich mit zahlreichen Zwiebelschichten noch darunter), Schal und Mütze anzuziehen, bevor er das Haus verließ, und ärgerte mich mehr als einmal über sein Gemaule - schließlich hatten doch alle anderen Kinder auch keine Sommerhosen im Winter an! Seitdem fühle ich immer seine Temperatur im Nacken: ist er dort heiß, muss er eine 'Zwiebelschicht' ausziehen. Nachher ist man immer schlauer. Mittlerweile ist dieses Nackenfühlen gar nicht mehr nötig. Ich bin davon überzeugt, dass bereits ein Kind mit vier Jahren sehr gut selbst einschätzen kann und darf, welche Kleidung es anziehen möchte - kein Mensch friert freiwillig.
Da die Haut der Neurodermits-Babies und -Kinder dennoch oft rissig ist, müssen die Kinder viel trinken, um der Trockenheit entgegenzuwirken. Erst im letzten Jahr habe ich das so richtig verinnerlicht und seitdem immer - wirklich immer! - eine Flasche Wasser dabei. Dennoch, die Entzündungen nahmen nicht ab, obwohl ich die lokalen, endogenen Ekzeme gut behandelte, wie die Weltmeister Wasser getrunken wurde und ich der Haut genug 'Raum zum Atmen' und Kühlen ließ. Warum also ist die 'äußere' Haut trotz Allem meist so verdammt trocken, rissig und entzündet, fragte ich mich? Sehr eingängig finde ich bis heute das Bild der Haut als Mauer einer Festung. Eine Mauer besteht aus Backsteinen aber kaum eine Mauer ist widerstandsfähig ohne den Mörtel, der die Steine zusammenhält, Rissen im Mauerwerk vorbeugt. Genau dieser Mörtel fehlt Neurodermitikern. Und zwar flächendeckend. Das heißt, die Haut ist rund um die Uhr ein Einfallstor für Bakterien, Viren, Warzen und Pilze. Genau deshalb ist es so wichtig, dass die Haut am gesamten Körper, und eben nicht nur an den entzündeten, irritierten Stellen, (mehrfach) täglich einer guten Basispflege unterzogen wird damit der fehlende Mörtel künstlich hinzugefügt werden kann, egal wie vermeintlich 'gut' ihr aktueller Zustand flächendeckend oder an ausgewählten Stellen ist! Überall muss gecremt werden - in guten wie in schlechten Zeiten. Das Mysterium Haut habe ich natürlich noch nicht voll entschlüsselt: wie auch, es ist das vielleicht faszinierendste und vielseitigste Organ des Menschen, das lange noch nicht vollends erforscht ist aber: es lohnt sich am Ball zu bleiben, Mosaikstücke zu sammeln, um peu à peu Zusammenhänge zu verstehen auf dem Weg zum "Hautprofi" des eigenen Kindes.
Jetzt wisst Ihr, warum es in letzter Zeit etwas ruhiger auf dem Blog war - mein Buch ist endlich da!
Ein Buch über das Suchen, Scheitern und Finden von Familie. Und die Frage: Wie wollen wir Leben?